IM SPOTLIGHT – IMPRESSIONEN ZUM TANZ IM TESSIN

Donnerstag 08.09.22
Von: Filippo Armati

Anhand von Interviews mit verschiedenen professionellen Tanzschaffenden haben wir die Situation des Tanzes im Tessin untersucht. Nach den verschiedenen Schliessungen aufgrund von Covid und dem anhaltenden Konflikt in der Ukraine, der alle beunruhigt, wollten wir in Erfahrung bringen, wie vier Fachleute aus der Region es schaffen, sich auf die Situation einzustellen: Nunzia Tirelli, Tiziana Conte, Claudio Prati und Emanuel Rosenberg. Künstler:innen, Akteur:innen, die sich mit verschiedenen Aspekten befassen: von der Kreation bis zur Förderung, Vernetzung und Ausbildung im Tanz. Hier finden Sie eine Zusammenfassung ihrer Eindrücke.

Wir haben damit begonnen, den Zustand des Tanzes im Tessin zu sondieren, indem wir diese Künstler:innen und Akteur:innen gefragt haben, wie sie die Covid-Zeit erlebt haben und ob sich ihre Aktivitäten durch die verschiedenen Einschränkungen verändert haben.


Claudio Prati, der zusammen mit Ariella Vidach seit vielen Jahren die Compagnie Aiep (Avventure in Elicottero Prodotti) sowie verschiedene andere Förderprojekte leitet, erläuterte, dass einige gezielte Aufforderungen zur Einreichung von Projektideen, die von diversen Institutionen ausgeschrieben wurden, sehr nützlich waren und es Einrichtungen wie ihrer Compagnie ermöglichten, spezifische Projekte zu entwickeln, auch wenn kein Publikum anwesend war. Doch auch abgesehen davon konnte die Compagnie ihre Aktivitäten fortsetzen. Sie beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der digitalen und virtuellen Beziehung des Körpers im Tanz und konnten somit auch ohne Publikum weiterhin tätig bleiben.


Emanuel Rosenberg, Choreograf, Tänzer, Mitglied des Vorstands von Danse Suisse sowie künstlerischer Leiter von Teatro Danzabile und des ORME-Festivals, der zusammen mit seiner Partnerin Piera Gianotti verschiedene künstlerische Projekte leitet, erinnerte daran, dass die Weiterentwicklung verschiedener Projekte durch die digitalen Begegnungen ermöglicht wurden, wobei er jedoch die physische Begegnung zwischen Menschen, die doch ein grundlegender Aspekt der menschlichen Beziehungen darstellt, vermisst habe. Weiter betonte er, dass die häufigen Terminverschiebungen aufgrund der ständigen Veränderungen in der Entwicklung der Pandemie zu Stress und Arbeitsausfällen führten. Zudem wies er darauf hin, dass die ausserordentliche Covid-Hilfe für die Aufrechterhaltung der Aktivitäten von entscheidender Bedeutung war, auch wenn die Verwaltungsarbeit in diesen Monaten zugenommen hatte.


Nunzia Tirelli, Choreologin, Tänzerin, Jurymitglied des Schweizer Tanzpreises sowie Expertin für Rudolph von Laban und seine zeitgenössischen Weiterentwicklungen (Organisatorin des Laban-Events) stellte fest, dass virtuelle Begegnungen das Gemeinschaftsgefühl mit Kolleg:innen bewahrt und Nähe zwischen Menschen ermöglicht haben. Sie beobachtete, wie seit der Lockerung der Einschränkungen eine Art Raserei eingesetzt hat, eine Anhäufung von Vorschlägen für Treffen, Veranstaltungen, Situationen zur Wiederherstellung eines Zusammengehörigkeitsgefühls. Auch erläuterte sie, dass sich kleine Gemeinschaften in der Zeit des «Eingesperrtseins» die für die Kommunikation notwendigen Instrumente aneigneten («Zusammenlegung, Öffnung für den anderen»), um den Kontakt zwischen und mit den Menschen aufrechtzuerhalten. Sie ist davon überzeugt, dass diese Gemeinschaften mehr geschützt und gefördert werden müssen, da sie in diesen schwierigen Zeiten grundlegende Ressourcen für den Tanz und für die Gesellschaft insgesamt darstellen.


Tiziana Conte, Kulturveranstalterin, Tanzexpertin und seit rund zehn Jahren Organisatorin der Festa danzante im Tessin, betonte, wie wichtig es war, sich der Situation anzupassen und wie der Einsatz von Technologie die Blockaden, unter denen der Sektor litt, überwunden hatte. Sie stellte fest, dass die Menschen immer noch Angst haben, in die Gegenwart zurückzukehren, um Aufführungen zu sehen, dass sich die Gewohnheiten der Menschen in den letzten Jahren geändert haben und dass die Szene der darstellenden Künste unter dieser langsamen Erholung leidet. Ihrer Meinung nach hat die dem Sektor bereits innewohnende Unsicherheit zugenommen, und es gibt eine Tendenz, Projekte mit «intimeren» Dimensionen zu realisieren, die mehr auf persönliche Beziehungen achten und über das Konzept der Nähe nachdenken.


Die zweite Frage bezog sich auf die Vor- und Nachteile der Arbeit im Tessin, um die kontextuellen Schwierigkeiten besser zu verstehen. Fast alle betonten, dass es ihnen aufgrund ihrer Tessiner Herkunft leichter fiel, bestimmte für die Region spezifische Dynamiken zu verstehen.


Tiziana Conte stellte fest, dass es noch viel zu tun gibt, um die Professionalisierung des Tanzes in der Region zu stärken. Sie ist jedoch davon überzeugt, dass die multidisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Verbänden und Organisationen die Verbreitung des Tanzes über den spezifischen Sektor hinaus erleichtern und dass sich diese Arbeitspraxis in verschiedenen Kulturkreisen durchsetzen wird.


Auch Claudio Prati unterstrich die zahlreichen Mängel, insbesondere das Fehlen einer angemessenen institutionellen (kommunalen und kantonalen) Finanzierung sowie das Fehlen eines professionellen, konsolidierten Theatersystems, das die Entwicklung von Strukturen ermöglichen würde, die mit dem Rest der Schweiz und dem Ausland konkurrieren könnten. Die heutige Realität bestätigt, dass nur wenige Theater- und Tanzkompanien eine professionelle Struktur entwickelt haben, manche sogar nur dank besonderer Umstände, wie zum Beispiel die Compagnie Aiep, die über eine Partnerschaft und ein Büro in Italien verfügt.


Emanuel Rosenberg stellte fest, dass es im Tessin manchmal an der Konfrontation zwischen den Künstler:innen und den verschiedenen professionellen Realitäten mangelt, dass der Einfluss der grossen Theater dominante ästhetische Tendenzen hervorbringen kann und dass seiner Meinung nach kleine und mittlere Realitäten gefördert werden sollten, die, wenn sie in engeren Kontakt miteinander gebracht würden, dem gesamten Sektor zugutekämen.


Nunzia Tirelli betonte ihrerseits, dass die Fähigkeit zum «Dialog» in den Beziehungen zwischen Verbänden, Gremien und Institutionen fehlt und dass es statt eines Dialogs häufig zu «Konfrontationen» kommt, die zu Spaltungen führen und alles andere als konstruktiv sind. Darüber hinaus stellte sie fest, dass das Fehlen von Dialogfähigkeit zur Auferlegung von Marktlogiken führt, die darauf abzielen, Compagnien in Unternehmen zu verwandeln, und dass diese Logik-Illogik vielleicht überdacht werden sollte; Kunst und Kultur sollten nicht den Gesetzen der Mechanik unterworfen werden.


Des Weiteren wollten wir von ihnen wissen, wie ihrer Meinung nach die Entwicklung des Sektors in den kommenden Monaten und Jahren in der Region aussehen könnte.


Am optimistischsten zeigte sich Emanuel Rosenberg, der erläuterte, dass eine zeitgenössische Tanzausbildung für junge Menschen (Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis - EFZ) eine Möglichkeit ist, den Beruf in der Region weiter zu legitimieren. Dieser Schritt muss noch bestätigt werden, aber die Tatsache, dass sich der Kanton in dieser Angelegenheit engagiert hat, lässt hoffen, dass dieses Diplom und die damit verbundene Ausbildung bald Realität werden und dem Tessin nationale und internationale Anerkennung bringen.


Tiziana Conte hat vor kurzem mit ihrem Verein Arturo Prod das Projekt «Isadora – Dance Platform» ins Leben gerufen und ist durchaus optimistisch, dass dieses Projekt – zusammen mit anderen – die Situation verbessern und eine stärker vernetzte und kooperierende «Community» schaffen kann.


Auch Nunzia Tirelli hob hervor, dass Netzwerke den Sektor stärken, und stellte sich eine umfassende landesweite Karte der Tanzspielstätten vor, welche die Kommunikation, die Produktionen und den Austausch verbessern sollte, um so eine Angleichung der Ziele zu erreichen.


Claudio Prati ist sich bewusst, dass der Tessiner Tanz ohne einen Tempowechsel leiden wird und es immer schwieriger wird, bei den wichtigsten Schweizer Berufsveranstaltungen präsent zu sein. Seiner Meinung nach ist ein Bewusstseinswandel erforderlich, der künstlerischen Projekten und den verschiedenen Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten mehr Legitimität verleiht. Die Zugehörigkeit zu beruflichen Netzwerken, die über weit weniger Ressourcen verfügen, macht es sehr schwierig und nur in seltenen Fällen möglich, wirklich regelmässig an Schweizer Berufsnetzwerken teilzunehmen. Ein künstlerisches Projekt, ein nicht gewinnorientiertes Unternehmen, wie eine Tanzkompanie, im Tessin zu starten, ist möglich, es wachsen zu lassen und mit der Zeit eine professionelle Struktur zu entwickeln, ist mit den derzeit verfügbaren Ressourcen und öffentlichen Mitteln unmöglich.


Abschliessend haben wir sie gefragt, ob die Einführung einer Empfehlung für einen Mindestlohn für Kunstschaffende in der Schweiz die Entwicklung des Sektors in der Region fördern würde.


Claudio Prati bemerkte, dass dies ein wichtiges Element ist, das dazu beitragen kann, bei den jungen Tessiner Choreografen ein "anderes Bewusstsein" zu schaffen, dass es aber natürlich nicht die einzige Lösung ist, sondern eines von vielen ersten Elementen, die für das professionelle Wachstum der Szene der Darstellenden Künste in der italienischen Schweiz in Betracht gezogen werden müssen.


Nunzia Tirelli anerkennt die Nützlichkeit und die Komplexität des Themas und ist der Meinung, dass andere Aspekte vertieft und auf bürokratischer sowie gewerkschaftlicher Ebene berücksichtigt werden müssen. Die Anerkennung unseres Berufsstandes ist erfreulich, aber diese Anerkennung bleibt ein Selbstzweck, wenn sie nicht an mehreren Fronten vertieft und unterstützt wird.


Auch Emanuel Rosenberg teilt die Meinung Tirellis und versteht dies als einen wichtigen Schritt, der aber gleichzeitig zu anderen, noch nicht bestehenden Vereinbarungen führen muss. Es ist richtig, einen Mindestlohn anzuerkennen, um die Professionalität eines Arbeitnehmers/einer Arbeitnehmerin zu gewährleisten, aber bis heute ist die Arbeit im Tanz in der allgemeinen Vorstellung des Tessins nicht als echter Beruf anerkannt, so wie es bei den meisten anderen Berufen der Fall ist.


Tiziana Conte stimmt ihren Kolleg:innen zu, dass diese Anerkennung für die Künstler:innen des Sektors wichtig ist, fragt sich aber gleichzeitig, ob der Verweis auf nationale Parameter, die andere Realitäten und eine stärkere Unterstützung für den Tanz und die Kultur im Allgemeinen aufweisen, nicht auch Risiken birgt, indem dieser Verweis eine Region wie das Tessin, in der noch viel im Bereich der Kulturpolitik zu tun ist, noch mehr gefährdet.


Herausgegeben von Filippo Armati


***Die Inhalte dieser Rubrik repräsentieren nicht zwingend die Position des Berufsverbands und liegen in der Verantwortung der Autor:innen.***